“Sea-Change” in Myanmar

After a year of an imposed state of emergency, Myanmar is in unprecedent turmoil, while new social forces are emerging. Through the experience of extraordinary violence, thousands of people lost their homes, going from poor to needy. So far, the international community has neither recognized the self-declared military government nor its civilian parallel.

Nach dem 1. Februar 2021 erlebte Myanmar, was im Englischen als sea-change bezeichnet wird.

William Shakespeare legte dieses Wort dem wandelbaren Luftgeist Ariel in den Mund (The Tempest, II). Es bedeutet “erdbebenartige, totale Umwälzung”. Das deutsche Wort “Paradigmenwechsel” klingt daneben nüchtern, entspricht jedoch.

Der 1. Februar 2022 wurde zu einem Jahrestag, an dem sich ansonsten vollkommen sachliche Analyst:innnen ungewohnt offen über die Entwicklung des Landes im Laufe des letzten Jahres äußerten.

Die Ereignisse des vergangenen Jahres lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Um ca. 10:30 vormittags am 1. Februar 2021 wurde in Myanmar der Ausnahmezustand erklärt, der als Konstrukt in der Verfassung von 2008 erscheint, und doch “niemals rechtmäßig” ist. Das Militär kehrte zurück an die Macht, gedemütigt von einer formidablen Wahlniederlage am 8. November 2020, die im Falle ihres Eintretens lange zuvor als “ein Alptraum für das Militär” beschrieben wurde. Verhaftungen und Zerstörungen folgten. Viele Politiker:innen der NLD gingen sofort in den Untergrund.

Die verhaftete und mehrfacher, zum Teil absurder Delikte angeklagte Daw Aung San Suu Kyi, ehemalige State Counselor, wird, so scheint es, ihre Freiheit nicht wieder erlangen, geschweige denn politische Macht und Einflussnahme.

Daw Aung San Suu Kyi in Nay Pyi Taw. 2016. AFP

Myanmar im beginnenden Jahr 2021 agierte unter Pandemiebedingungen, die vielversprechende Wirtschaft war schon zuvor ins Taumeln geraten, der Friede im Kayin-Staat war gebrochen.

Senior General Min Aung Hlaing, Oberkommandierende der burmesischen Streitkräfte (Tatmadaw), riss nach der Wahlniederlage das Steuer herum: Zusammen mit anderen Generälen steuerte er weg von der “Transition zur Demokratie” hin zu einem Militärregime alter Schule. Vieles weist auf General Ne Win und dessen Coup vom 2. März 1962 als role-model für dieses Vorgehen hin.

Die frühe Analyse einer Expertenrunde des “Diplomat” wenige Wochen nach dem Coup stellte eine fatale Fehleinschätzung der militärischen Führungselite fest: Aus Eitelkeit und der irrigen Annahme großer Beliebtheit innerhalb Myanmars – das Militär habe die Marktwirtschaft eingeführt und die Öffnung des Landes im Jahr 2010 ermöglicht – kam der millionenfache erbitterte und landesweite Protest als ein Schock nach Nay Pyi Taw, Sitz des militärischen State Administration Council (SAC), der, selbsterklärt, Legislative, Judikative und Exekutive in sich vereint.

Die internationale Gemeinschaft zeigte sich angesichts des Coup d’État “caught off guard”, vollkommen überrascht.

China

Der erste Kommentar des chinesischen Botschafters in Myanmar Chen Hai – es handele sich bei diesen Vorgängen um “eine größere Umsortierung des Kabinetts” – wurde als Spott empfunden. Es folgte Mitte Februar eine weitere diplomatische Sentenz: “Die derzeitige Situation ist absolut nicht, was China sehen möchte. – The current development is absolutely not what China wants to see.” Das hieß: Ein aufgewühltes Nachbarland ist auch deshalb unerwünscht, weil China die eigenen Milliardeninvestionen in Myanmars Minen, Wasserkraft, Landwirtschaft, Infrastruktur und Tourismus nicht gefährdet sehen wolle.

Protest

Viele der Demonstrierenden, die auf die Straße gingen und sich dem schnell geformten Civil Disobedience Movement (CDM) anschlossen, waren in der Dekade der Öffnung 2010 bis 2020 herangewachsen, einer Zeit der Freiheit, Bildung und Aussicht auf Prosperität. Dies alles schien über Nacht gefährdet, wenn nicht ausgelöscht. Dies erklärt die Wut und Bitterkeit des Widerstandes gerade der jungen Generation Z.

Entscheidende Impulse zum zivilen Ungehorsam waren aus dem Gesundheitswesen gekommen, Angestellte aus dem Sektor Bildung und öffentlicher Infrastruktur folgten.

Verhaftungen, Entlassungen, Obdachlosigkeit und ein Sich-Verstecken-Müssen – “going into hiding” – waren die Konsequenz für diejenigen im aktiven Widerstand.

Die Bilder der Massendemonstrationen in Yangon, Mandalay, Hpa’an und anderen Orten Myanmars vom Februar 2021 sind im Gedächtnis der Menschen geblieben. Sie folgten den Beispielen der Massendemonstrationen von Hongkong und Bangkok.

Die teilweise äußerst kreativen Proteste auf den Straßen Myanmars fanden ein jähes Ende, als das Militär zu Gewalt griff: Scharfschützen wurden eingesetzt. Sie töteten gezielt. Massenhafte Verhaftungen folgten, wie auch Folterungen, von denen später berichtet wurde. Das schnell verhängte Versammlungsverbot war millionenfach und landesweit ignoriert worden.

Der 14. März 2021 gilt als erster Höhepunkt der Gewalt. An diesem Tag wurde in einigen Bezirken Yangons das Kriegsrecht verhängt, darunter auch in Hlaing Thayiar, einem sozialen Brennpunkt. Hier stehen die meisten Fabriken der burmesischen Textilindustrie. Diejenigen chinesischer Besitzer gingen in Flammen auf.

Dreifinger-Salut in Mandalay. Februar 2021. via Frontier Myanmar

In den ersten zwei Monaten nach dem Coup d’État klärten sich rasch und schmerzhaft die Fronten zwischen Militär/Polizei auf der einen und dem CDM auf der anderen Seite. Die Weichen für die Entwicklung in Richtung Bürgerkrieg wurden gestellt.

National Unity Government – NUG und People’s Defence Forces – PDF

Neben dem Protest auf der Straße formierte sich institutioneller politischer Widerstand, zunächst als Zusammeschluss gewählter Abgeordneter im Committee Representing Pyu Hluttaw (CRPH). Dann erklärte sich im April die National Unity Government (NUG) zur zivilen Parallelregierung Myanmars.

Diese plant, weit über bisherige Politiken hinauszugehen und im Sinne eines föderalen Myanmar die ethnischen Parteien und Belange – anders als die NLD mit Daw Aung San Suu Kyi es tat – auf Augenhöhe zu verhandeln. In den ethnischen Gebieten hält man dies für ein Lippenbekenntnis – durch einen starken NLD- Anteil ist die NUG in den ethnischen Gebieten eher unglaubwürdig.

So ist scheinbar der am 16.11.2021 gegründeten”inklusiv und breit angelegten Plattform” National Unity Consultative Council (NUCC) eher als der NUG die Handlungshoheit für die Planung einer föderalen Zukunft Myanmars zuzuschreiben.

Im Mai 2021 rief die NUG zum bewaffnetem Widerstand auf, es begannen sich die ersten People’s Defence Forces, “Volksverteidigungskräfte”, landesweit zu formieren.

Es ist seit Juni bekannt, dass einige der ethnischen bewaffneten Organisationen die PDFs militärisch trainieren. Eine der ersten Organisationen war die Karen National Liberation Army (KNLA), andere zögern.

Die Volksverteidigungskräfte attackieren Personen und Institutionen, die mit dem Militär verbunden sind. Auch sie töten gezielt. Zahl und Namen dieser Gruppen, die Guerillataktiken einsetzen, sind unüberschaubar geworden.

Die paramilitärischen Pyu Saw Htee bilden die Gegengruppen auf der Seite des Militärs. Es entstand der Begriff der “intrazivilen Gewalt”, ein Ping Pong von Angriff und Gegenangriffen mit ungleichen Waffen.

Weder die NUG noch der SAC wurden von der internationalen Staatengemeinschaft bisher als rechtmäßig anerkannt.

Flucht

Gewalt und die Angst vor Gewalt sind für Tausende Menschen in Myanmar Alltag geworden. Die Folgen der politischen Instabilität spiegeln sich im Schicksal der Verhafteten, Vertriebenen und Flüchtlinge wider.

Letztere suchen in Indien und Thailand Zuflucht, willkommen sind sie nirgendwo. Die Zahlen der betroffenen Menschen sind schnell dahingeschrieben und doch unvorstellbar: Zu den Menschen, die schon vor dem Coup als Binnenvertriebene in sogenannten Internal Displaced Persons/IDP Camps in Myanmar und Thailand lebten – grob geschätzt 300 000 – sind durch die Folgen des Coup d’État mindestens weitere 367 400 gekommen (UNHCR 03.01.2022). Es ist jedoch unmöglich, genaue Zahlen zu nennen, und im Zweifel sind die offiziellen zu niedrig angesetzt. Hinzukommen Hunderttausende Rohingya, die gezwungen sind, in IDP Camps oder Flüchtlingslagern in Myanmar und Bangladesh zu leben.

Die Bamar-Bevölkerung und die Weltgemeinschaft hatten es in den letzten Jahrzehnten hingenommen, dass in der “Peripherie”, also in Rakhine, Chin, Kachin, Shan, Kayah, im Kayin Staat und jüngst auch wieder im Mon-Staat Unfriede an der Tagesordnung waren, begründet in Autonomiebestrebungen und Machtkämpfen um Naturressourcen und Territorialansprüche. Der im Jahr 2015 erneut begonnene Friedensprozess gilt als “tot”; laut dem Medienportal elevenmyanmar thematisierte ihn Sen. General Min Aung Hlaing jedoch im Januar 2022 bei verschiedenen Anlässen im Kachin und Kayah Staat und in Nay Pyi Taw.

In den ethnischen Gebieten – der “Peripherie” – waren und sind Allianzen mit dem Tatmadaw genauso an der Tagesordnung wie bewaffnete Konflikte. In diesem Universum komplexer und durchmilitarisierter Strukturen kommt es nun zu neuen Verbindungen und neuen Risiken. Ob diese Situation im Sinne sozialer Trägerbewegungen – “carrier movements” (Staniland: 2021)- auch neue Chancen birgt, liegt in der Zukunft.

Die Vereinten Nationen

OCHA, die Organisation der Vereinten Nationen für humanitäre Angelegenheiten, hat im Laufe des Jahres 2021 die Hilfe für Myanmar mit einem Notfallfonds aufgestockt. Seit einigen Wochen heißt es nun, es ginge in Myanmar nicht länger um Armut, sondern um das Abgleiten Tausender in bittere Bedürftigkeit. Für die Helfer:innen geht es darum, die Menschen trotz einer gefährlichen Sicherheitslage versorgen zu können. Hier geht es um reine Daseinsfürsorge: Beschaffung sicherer Schlafplätze, Kochgeschirr, Lebensmittel, Kleidung.

Myanmar übertraf laut International Crisis Group in den letzten Monaten des Jahres 2021 den Yemen, Afghanistan und den Irak in puncto staatlicher Gewalt gegen die eigene Zivilbevölkerung. Mit Luftangriffen, Brandschatzungen und Plünderungen von Dörfern, in denen PDF-Kräfte vermutet wurden wie in Sagaing und Magwe, aber auch im Kayah und Kayin Staat, “übertraf Min Aung Hlaing, was 1988 geschehen war” (Myanmar Now). Ein australisches Solidaritätsschreiben vergleicht diese Ereignisse mit “2017 in Rakhine”.

Geber

Deshalb appellierten die Vereinten Nationen im Januar an die internationale Gebergemeinschaft, Zuwendungen für Myanmar in einer neuen Richtung zu bedenken. Die benötigte Summe seit Mitte 2021 immer wieder modifiziert. Sie liegt nun in einer Höhe von über 827 Millionen US-Dollar.

Deutsche Entwicklungshilfe für neue Projekte in Myanmar wurde zwar vor zwei Jahren gestoppt , doch gehört Deutschland noch immer zu den Top-Geber-Ländern.

Die fünf permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates (P5) der Vereinten Nationen werden bezüglich Myanmars momentan wie folgt eingeschätzt: Russland und China stärken stets Myanmars Position, die USA, Großbritannien und Frankreich bemühen sich, eine Balance der Interessen zu finden, sind jedoch selbst mit Pandemieentscheidungen im eigenen Land und den Konfliktfeldern Afghanistan und der Ukraine stark gebunden.

Zudem besitzt der Westen im Gegensatz zu China, historisch bedingt, einen begrenzten Einfluss in Myanmar. Dennoch wäre es falsch, stereotypenhafte Einordnungen vorzunehmen. China besitzt Einfluss auf Konfliktdynamiken im süd- südostasiatischen Raum, die es zu einem Kooperationspartner des Westens machen.

So trägt das Myanmar der erneuten Zeitenwende neue und doch alte Züge: neue Schrecken für die Bevölkerung, neue und unerwartete Koalitionen innerhalb des Landes, neue Herausforderungen für Geberländer. Dies alles geschieht, da sich der altbekannte Zyklus massiven militärischen Eingreifens in das Staats- und Gemeinwesens in Myanmar mit dem Coup d’État vom 1.Februar 2021 fortsetzt.

In den Jahren der Öffnung hieß es “Wechsel ist überall – change is everywhere” im Ton einer positiven Grundstimmung.

Das Wort “Wechsel” besitzt in Myanmar seit einem Jahr einen neuen Klang. Es klingt nach der unumkehrbaren Veränderung, die Shakespeare den wandelbaren Geist Ariel besingen ließ.

Sources

International Crisis Group (ICG). 01/2022. Asia Report No 319 Die ICG ist nach eigenen Angaben eine Non-Profit Organisation, die zu 50% stiftungs- und regierungsfinanziert ist. Ihre Stärke liegt in der Feldforschung und in dem erleichterten Zugang zu sämtlichen Akteur:innen der analysierten Konflikte. Im Bereich Asien publiziert ICG überproportional häufig zu Myanmar.

  • 01/ 2022 One Year on with the Myanmar Coup. Q&A with Richard Horsey

Mandy Sadan. Ed. 2016. War and Peace in the Borderlands of Myanmar. The Kachin Cease Fire. Singapore: nias

William Shakespeare. The Tempest, in: Howard Staunton. Ed. 1979. The Globe Illustrated Shakespeare. New York: Gramercy Books: 1527-1578

Paul Staniland. 2021. Ordering Violence. Explaining Armed Group-State Relations from Conflict to Cooperation. Cornell University Press

United Nations: verschiedene Veröffentlichungen 2021. 2022

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Frontier Myanmar. 26.1.2021 “Will the Kayin BGF go qietly?”

Myanmar Now. 31.01.2022 “On Myanmar’s coup anniversary we must turn our back on a year of failed policies”

The Irrawaddy. 25.01.2022. “Myanmar Revolution has Necessary Ingredients for Success: US-Security Expert” Der “Irrawaddy” wurde 1993 als Exil-Medium in Bangkok mit Headquarters in Chiang Mai/Thailand gegründet. In einem Interview mit “Reporters Without Borders” am 08.08. 2011 stellte der heutige Chefredaktuer Aung Zaw “The Irrawaddy” gleich mit den burmesischsprachigen Sendungen der BBC, Radio Free Asia und der Voice of America. Letzteres ist das internationale Medium der US-amerikanischen Regierung.

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